Schultheater der Länder - Idee und Geschichte

1985 betrat in der Kampnagel-Fabrik Hamburg ein Festival die Theaterbühne Deutschlands, das bereits damals, im Verlauf seiner nunmehr 22-jährigen Geschichte und auch gegenwärtig viel für die Entwicklung des Darstellenden Spiels in der Schule geleistet hat. Was einst in Hamburg begann, hat bis heute keine der ursprünglichen Ideen verloren. Das Schultheater der Länder (SdL) ist

- ein Arbeitstreffen mit jährlich wechselndem Schwerpunktthema und Fachaspekt
- ein Festival von und mit Gruppen aus allen Bundesländern
- eine Begegnung ohne Wettbewerbs-, aber mit viel Erlebnischarakter
- ein Wandertreffen, das jährlich in einem anderen Bundesland stattfindet
- eine Fachtagung, deren Ergebnisse für Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt werden
- eine Veranstaltung mit einem jeweils auf das Thema bezogenen Rahmenprogramm (Nachgespräche, Werkstätten, Festivalzeitung etc.).

Das SdL stärkt die Position und Qualität der ästhetisch-kreativen Fächer an den Schulen und unterstreicht im Besonderen die Bedeutung des Darstellenden Spiels als kultureller Bildung gerade auch an den allgemeinbildenden Schulen.

Die Geschichte des Schultheaters der Länder
Auf eine Initiative der Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel in der Schule e. V. (heute: Bundesverband Darstellendes Spiel e. V., BV.DS) und der Körberstiftung Hamburg hin wurde das SdL 1985 zum ersten Mal veranstaltet. Gedacht als ein überregionales Begegnungs- und Fachforum für Schultheater sollte es theoretische Fragestellungen auf Grundlage von Praxisbeispielen diskutieren. Darüber hinaus galt es, das Netzwerk "Schultheater" über die Ländergrenzen hinweg auf- bzw. auszubauen und für Schülertheatergruppen eine Möglichkeit des bundesweiten Austausches zu schaffen.
Das erste Schultheater der Länder fand über vier Tage auf dem Gelände der Kampnagel-Fabrik in Hamburg statt. Alle elf Bundesländer waren damals mit einer Gruppe vertreten und zeigten unter dem Motto "Schultheater trifft freies Theater" ihre Produktionen. Daneben gab es Fachgespräche und Werkstätten — Elemente, die sich in der Struktur aller späteren Treffen immer wieder finden.
Standen in den ersten Jahren v. a. formale Schwerpunkte (Schultheater und Musik, körperorientiertes Theater, Eigenproduktionen, literarische Vorlagen, Maskenspiel etc.) im Mittelpunkt, wurde seit Anfang der 90er Jahre die Aufmerksamkeit verstärkt auf innovative und gesamtgesellschaftlich-politische Inhalte gelenkt (Schultheater und Politik, Brennpunkt Schulkultur, ... und es bewegt uns doch! etc.).
1991 konnte zum ersten Mal eine Gruppe aus den neuen Bundesländern begrüßt werden; 1994 waren dann erstmals alle fünf neuen Bundesländer vertreten. Im Jahr 2002 hatte das Schultheater der Länder seine erste Rundreise durch die Bundesrepublik beendet.

Ein Arbeitstreffen mit neun Säulen
Von Beginn an richtete sich das SdL auf die Entwicklung des schulischen Arbeitsfeldes Darstellendes Spiel. Daher zielt es nicht auf die "Sternstunden" des Schultheaters, sondern auf die möglichst breite Anhebung der Qualität der Schulstunden im Schultheater. Unter diesem Auftrag wurden die oben genannten Grundsätze kontinuierlich entwickelt, über die Jahre geschärft und stets mit Blick auf anstehende Problemstellungen modernisiert. Von diesen überlegungen profitieren jedes Jahr 300 Schüler/innen und ihre Spielleiter/innen und die ca. 130 Fachtagungsteilnehmer/innen. Dafür setzen die Säulen des SdL den Rahmen:

Tragende Säule I: Das Thema
Das SdL steht unter einem jährlich wechselnden Fachaspekt, der inhaltliche und/oder formale Impulse bündelt und vertieft. Damit trägt es entscheidend zur Qualifizierung des Darstellenden Spiels bei. Das Motto bildet den Rahmen für alle Festivalveranstaltungen. Die Aufführungen werden in Hinblick auf das Schwerpunktthema von den Landesarbeitsgemeinschaften und dem Bundesverband ausgesucht; die Fachtagung beleuchtet das Thema theoretisch und reflektiert die Produktionen praxisorientiert. Die Themenbezogenheit des SdL hat sichtbare Folgen in den Bundesländern hinterlassen: im Vorwege und im Nachhinein in den Fortbildungsangeboten der Länder oder als Rahmen für die Länderfestivals.

Tragende Säule II: Die Aufführungen
16 Theatergruppen - jedes Bundesland entsendet eine Gruppe - zeigen im Rahmen eines SdL ihre Produktionen. Sie stehen im Mittelpunkt des Treffens und zeigen das formale und inhaltliche Spektrum des Schultheaters. Die Gruppen kommen aus den verschiedenen Arbeits- und Schulkontexten: Grundschule, Haupt- und Realschule, Gymnasium, Kolleg; Kurse des Darstellenden Spiels, Projektwochenergebnisse, Arbeitsgemeinschaften.
Jedes der Festival-Themen vereinigt Aufführungen, die einen wesentlichen oder anscheinend weniger bedeutsamen Beitrag zum Motto liefern. Die Aufführungen sind Anlass für die reflektierende thematische Auseinandersetzung; sie leisten gleichzeitig den Praxis-Transfer des theoretischen Diskurses auf die Schulbühne. Erst die bewusste Wahrnehmung einer Aufführung unter dem thematischen Aspekt lässt ungeahnte Nuancen und Facetten bezüglich der Schwerpunktsetzung erkennen.

Tragende Säule III: Die Begegnungen
über das Zuschauererlebnis der 16 Aufführungen hinaus bietet das SdL ein vielschichtiges Diskussions- und Praxisforum für alle — jungen und alten —Teilnehmer/innen.
Die ausführlichen Stückebesprechungen nach den Aufführungen setzen sich zum Ziel, sich mit der Entwicklung und dem Ergebnis der Produktionen unter thematischen und formalen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Diese Nachgespräche sind nicht nur für die Zuschauer/innen, sondern auch für die spielende Gruppe erhellend. Sie bieten die Gelegenheit, das eigene Theaterverständnis auf den Prüfstand zu stellen, auf Seiten der Zuschauer/innen Beobachtungs-, Reflexions- und Feedbackfähigkeiten zu entwickeln und bei den spielenden Gruppen die Bereitschaft zu Kritik und die Kompetenz, Erarbeitetes zu beschreiben und zu verteidigen, zu schulen. Die Diskussionen werden in einer von Schüler/innen verantwortete Festivalzeitung fortgesetzt.
Die ganztägigen Werkstätten, die ebenfalls auf das Thema bezogen sind, werden von erfahrenen Spielleiter/innen, Theaterlehrer/innen bzw. professionellen Theaterleuten geleitet. Hier lernen die Spieler/innen neue Formen des Theaters kennen. Diese theaterpraktische Fortbildung hat den wichtigen Effekt des gegenseitigen Kennen lernens. Ein theatrale und kommunikative Einbettung erhält das SdL auch durch ein vielgestaltiges Rahmenprogramm in Form einer Eröffnungs- und Abschlussveranstaltung sowie den abendlichen Feten.

Tragende Säule IV: Der Fachdiskurs
Die in das Festival integrierte Fachtagung bietet Lehrer/innen, Wissenschaftler/innen und Theaterpädagog/innen aus dem ganzen Bundesgebiet ein Forum für Fortbildung. Unter ihnen befindet sich eine große Gruppe von Organisator/innen von Landesfestivals und regionalen Treffen, von Verantwortlichen für Lehrerfortbildung in diesem Bereich, Vorstandsmitgliedern der Landesverbände oder Verfassern von Zeitungsartikeln und Fachbüchern.
In der Fachtagung wird das Thema vor dem Hintergrund der Festivalergebnisse und der eigenen Schultheaterpraxis der Beteiligten entfaltet und entwickelt. Das Augenmerk liegt dabei auf allgemeinen Fragestellungen. Diese werden im Hinblick auf Aspekte der Entwicklung von Schultheater und des Unterrichtsfachs Darstellendes Spiel weiterverarbeitet. Der inhaltlichen Schwerpunkt ist damit der entscheidende methodische Impuls für die Qualifizierung der Schultheaterlandschaft. Sie haben den Weg von der Fachtagungen zum Fach bereitet.
Der theoretische Fachinput in Form von Vorträgen erfährt eine Ergänzung durch einen Sachdiskurs im Rahmen von Fachforen. Diese nehmen die Aufführungen als Impuls, sich zu begegnen und zu informieren, Meinungen auszutauschen und Urteile zu relativieren, Wahrnehmungen zu beschreiben, Einordnungen zu versuchen, Vergleiche zu diskutieren.
Der Anspruch, das Schultheater fachlich weiterzubringen, hat bis heute erkennbare Folgen: Sowohl die Verständigung über Fachprobleme als auch die beabsichtigte Eingliederung des Darstellenden Spiels in den Fächerkanon der Schulen sind ein ganzes Stück weitergekommen.

Tragende Säule V: Die Bundesländer
Schultheater ist Ländersache — das Schultheater der Länder ist gemeinsame Sache. Ein leitender Gedanke des SdL ist die Integration der Bundesländer auf verschiedenen Ebenen: aus den Ländern in die Länder. Es ist nicht nur konstituierend, dass jedes Bundesland mit einer Gruppe vertreten ist, welche die Impulse des Treffens weiterträgt. Es ist ebenso wichtig, dass die Fachtagungsteilnehmer/innen aus dem ganzen Bundesgebiet anreisen, um Anstöße für die Entwicklung des Faches, inhaltliche Anregungen für die Lehrerfort- und -weiterbildung zu geben und zu nehmen und den Dialog mit den Länderfestivals sicherzustellen.
Als Wandertreffen zeichnet in jedem Jahr ein anderes Bundesland für die Organisation des Treffens verantwortlich und nutzt diese Verantwortung für die stärkere Implementierung des Fachs Darstellendes Spiel und des Schultheaters im Bewusstsein der jeweiligen Landespolitik und öffentlichkeit. Diese regionale Komponente hat die inhaltliche und formale Bereicherung des SdL zur Folge.

Tragende Säule VI: Die Partnerschaft
Das SdL baut auf eine starke Partnerschaft: Der BV.DS und der Landesverband des gastgebenden Bundeslands organisieren das Treffen kooperativ und nutzen es für die Stärkung des Darstellenden Spiels auf den jeweiligen Ebenen. Dabei sind die Mitglieder des BV.DS auf vielen Ebenen in die inhaltliche Ausrichtung des SdL eingebunden. Durch die kontinuierliche Förderung der Körber-Stiftung und deren Engagement für Schultheater wurde und wird das Aktionsfeld des SdL erweitert. Diese Partnerschaft setzt auch vielfältige inhaltliche Impulse. Mit der Inobhutnahme des Schultheaters der Länder durch die KMK ist nicht nur die finanzielle Grundversorgung der Gruppen und des Festivals gesichert, sondern auch die Anerkennung als bundesweites Arbeitstreffen. Mit dem Landesverband vor Ort werden in der Region Kräfte aktiviert, die in ihrer Binnen- und Außenwirkung dazu beitragen, dass sich das föderative Prinzip des SdL bewähren und weiterentwickeln kann. Partner hierbei sind neben dem Kultusministerium und der ausrichtenden Kommune Schulen, außerschulische Bildungseinrichtungen und Theater.

Tragende Säule VII: Der Außenblick
Das SdL ist in das Netzwerk der verschiedenen Jugendtheaterfestivals eingebunden, z. B. dem Theatertreffen der Jugend und dem Treffen der Jugendclubs an Theatern. Zwar setzt es sich zum Ziel, vorrangig die fachlichen Bedürfnisse des Schultheaters zu befriedigen, wagt aber immer wieder die Begegnung und öffnung nach außen: durch professionelle Gastspiele, durch die Einbindung vieler Professionen in die Fachtagung, durch inhaltliche Schwerpunkte etc.

Tragende Säule VIII: Die Publikationen
Die langjährige Form der schriftlichen Dokumentation wurde im Jahr 2001 abgelöst durch die Fachpublikation "FOKUS Schultheater", die im hauseigenen Verlag der Körber-Stiftung (Edition Körber) erscheint. Ihre Zielgruppen sind neben Lehrerinnen und Lehrer für Darstellendes Spiel in der Bundesrepublik auch alle anderen interessierten Theatermenschen. "FOKUS Schultheater" ist eine Mischung theoretischer Impulse, didaktischer Anregungen und direkt für den Unterricht nutzbarer Materialien, Spielvorlagen, Neben wissenschaftlichen Beiträgen zur Didaktik und Praxis werden Analysen beispielhafter Aufführungen zum jeweiligen Thema des Schultheaterfestivals und methodische überlegungen geboten. ("FOKUS Schultheater" zu den Themen ZeitSprünge, überSetzen und drama > frisch ist zu beziehen über den Theaterbuchversand www.theaterbuch-versand.de).

Tragende Säule IX: Die Dynamik
Das SdL hat vielleicht nie wirklich Krisen durchschritten, dennoch unterliegt des Treffen einer Dynamik, will es den sich verändernden Anforderungen gewachsen sein. Immer wieder neue Gruppen, neue Themen, neue Multiplikator/innen, neue Orte, neue Ideen, neue Erfahrungen, neue Rahmenbedingungen erfordern die Balance zwischen Kontinuität und Flexibilität. Auf dem Prüfstand sind die Zusammensetzung der Fachtagungsteilnehmer/innen und die inhaltliche Ausrichtung der Fachtagung, die Qualität der gezeigten Produktionen im Besonderen und das SdL als Qualitätsentwicklungsmaßnahme für das Schultheaters im Allgemeinen, die Wertigkeit der einzelnen Säulen und die Verknüpfung eben dieser tragenden Elemente, die Zielorientierung sowie der Eventcharakter des SdLs und die Langfristigkeit von Entwicklungsprozessen in Schule.

Kerstin Hübner